Redebeitrag der Initiative zur Urteilsverkündung im NSU-Prozess

Urteilsverkündung im NSU-Prozess: Keine Aufklärung bedeutet kein Ende des Schreckens

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Viele Beobachter*innen des NSU-Prozesses beziehen sich heute auf die Prozessdauer im Münchner Gerichtsverfahren von 5 Jahren und 2 Monaten. Manche beziehen sich auch auf die Dauer des gesamten Ermittlungsverfahrens seit der so genannten „Selbstenttarnung“ des NSU vor mehr als 6 Jahren und 8 Monaten in Eisenach-Stregda. Nachweislich begonnen haben die Gewaltkarrieren des – wider besseres Wissen – auf lediglich ein „Kern-Trio“ begrenzten NSU allerdings bereits vor über 20 Jahren.

Briefbomben und Bombenattrappen gegen Behörden und Einrichtungen der Stadt Jena in den Jahren 1996/97 blieben trotz einschlägiger Erkenntnisse und Beweismitteln wie Fingerabdrücken und DNA-Spuren rechtsstaatlich ungeahndet. Diese Angriffe waren offensichtlich bereits staatlich betreut, gefördert und von rechtsstaatlicher Verfolgung freigestellt.

Die strukturell tödliche Strategie staatlich kontrollierter, rechtsextremistischer Verbrechen ist historische Kontinuität in der BRD mit einem nach 1945 konsequent re-nazifizierten deutschen Rechtsstaat. Dessen Akteur*innen üben in allen Gewalten von Exekutive bis Judikative einen strukturellen Rassismus aus. Rassistisch motivierte Täter*innen werden gefördert, verharmlost und geschützt. Opfer, Betroffene und Angehörige werden vorsätzlich kriminalisiert und entwürdigt.

Der NSU-Komplex ist trotz all seiner Monstrosität nur die symptomatische Spitze eines Eisberges. Denn unter der Oberfläche wird alltäglich getötet, verwundet und erniedrigt. Nicht nur im Mittelmeer und den systematisch aufgerüsteten „Krisengebieten“ werden tagtäglich Menschenleben vernichtet. Die BRD selbst ist keineswegs ein sogenanntes „sicheres Drittland“. Rassistische Gewalt existiert deutschlandweit.

Selbst in mutmaßlicher „Obhut“ von polizeilichem oder Justizgewahrsam sterben immer wieder Menschen unter vermeintlich unaufklärbaren Umständen. Wie kann das sein? Die Antwort ist viel zu einfach, um wahr zu sein: staatliche Verbrechen oder Verbrechen durch Beamte des Staates sind einfach nicht „vorgesehen“! Weder in der Verbrechensstatistik, noch im strukturellen Aufbau der Ermittlungsbehörden – und schon gar nicht in den Gesetzbüchern und Gedankenwelten einer vorgeblich sooo „unabhängigen“ Justiz, wie ausgerechnet der deutschen.

Beamte des Staates erscheinen grundsätzlich frei von kriminellen Motivationen. Staatsanwaltschaften sind grundsätzlich nicht zuständig für die Verfolgung von Verbrechen des Staates. Gerichte lassen sich immer wieder bereitwillig von Beamten des Staates belügen. All das bleibt ohne Konsequenzen. Die Politik nimmt ohne Beschwerden geschwärzte Akten entgegen und geht über systematische Beweismittelvernichtungen einfach hinweg.

Weil nicht sein kann, was immer wieder offensichtlich wird. Ermittlungen werden aktiv manipuliert, eingeschränkt oder verhindert. Beweismittel werden vernichtet oder neu erfunden.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass gewaltsame deutsche Staatsverbrechen weitgehend ohne Konsequenzen geblieben sind. Insbesondere durch die gesellschaftliche Verleugnung deutscher Kolonialverbrechen ermöglicht und fördert die Staatsraison die rassistische Gewalt.

Ich spreche hier für die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, die seit Januar 2005 für die Aufklärung des Mordes an Oury Jalloh im Polizeigewahrsam in Dessau in Sachsen-Anhalt kämpft.

Unsere Solidarität gilt am heutigen Tag allen Familien und Freunden der Opfer der Mordserie des so genannten NSU. Wir möchten allen Initiativen und Gruppen, die sich hier engagieren, Kraft geben und Mut machen weiter für die notwendige Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

Es darf uns nicht entmutigen, dass die gerichtliche und politische Aufklärung dieser Morde sowohl im NSU-Komplex als auch im Fall von Oury Jalloh ganz offenkundig nicht gewollt ist. Im Gegenteil, diese Erkenntnis sollte uns allen die Augen dafür öffnen, wie der deutsche Rechtsstaat funktioniert und mit welchem repressiven Aufwand er gegen Menschen vorgeht, die sich für eben diese Wahrheit und Gerechtigkeit einsetzen.

Oury Jalloh wurde von deutschen Polizist*innen rechtswidrig in einer Polizeizelle an Händen und Füßen fixiert, misshandelt und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die polizeilichen Ermittler und die Staatsanwaltschaft behaupteten hingegen von Anfang an, dass sich Oury Jalloh selbst angezündet haben muss.

In den vergangenen Jahren haben wir selbst die Faktenlage geschaffen, die beweist, dass er sich eben nicht selbst angezündet haben kann. Wir haben die Staatsanwaltschaft in Dessau durch internationale Gutachten soweit unter Druck setzen können, dass sie im April letzten Jahres selbst eingestehen musste, dass Oury Jalloh mit Hilfe von Brandbeschleunigern angezündet worden sein muss. Dass das Feuerzeug als wichtigstes Beweismittel für die Selbstanzündungshypothese gar nicht in der Zelle gelegen haben kann, war da schon mehr als 5 Jahre lang gutachterlich bewiesen.

Obwohl die Dessauer Polizei für ihren krassen Rassismus berüchtigt war und ist, will der Generalbundesanwalt wiederholt kein rassistisches Tatmotiv erkennen. Und obwohl es zwei weitere ungeklärte Todesfälle im gleichen Polizeirevier gegeben hat, schließt derselbe Generalbundesanwalt eine dort anhaltende strukturelle Fehlentwicklung grundsätzlich aus.

Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat kürzlich zwei Sonderberater im Fall von Oury Jalloh eingesetzt. Diese sollen aber überhaupt erst mit der Akteneinsicht beginnen, wenn die Justiz den Fall endgültig abgeschlossen hat. Die Generalstaatsanwalt in Naumburg prüft derweil seit über 8 Monaten die sorgsam manipulierten Akten. Dann entscheidet sie, ob weitere Ermittlungsschritte überhaupt eingeleitet werden sollen. Vielleicht bestätigt sie aber auch die fehlerhaften Einstellungsbegründungen der Staatsanwaltschaft Halle und der Mord bleibt juristisch unverfolgt.

Der sich hier offenbarende, Vertuschungs- und Verschleppungswille des deutschen Rechtsstaates ist dieselbe Einstellung, die sich im NSU-Verfahren und den zahlreichen NSU-Untersuchungsausschüssen wiederfindet. Deshalb ist es uns wichtig zu betonen, dass wir absolut kein Vertrauen und auch keine Hoffnung in irgendeine Form von tatsächlicher Aufklärung durch staatliche Institution haben können. Aber wir haben Vertrauen in uns und in euch: Kein Schlussstrich! Kein Vergeben – Kein Vergessen! Wir werden nicht verstummen, sondern unsere eingeschlagenen Wege umso entschlossener weiter verfolgen!

Wir haben verstanden, dass wir die Aufklärung selbst in unsere Hände nehmen müssen. Dass wir uns selbst organisieren und zusammenschließen müssen. Es braucht die Kraft und den Mut vieler Menschen, diese Wahrheit zu erkämpfen und damit gleichzeitig die unsäglichen Lügen eines staatlichen Systems zu entlarven.

Wir als Initiative haben Anfang dieses Jahres eine internationale unabhängige Kommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod von Oury Jalloh gegründet und halten so den Ermittlungsdruck gegen Staat, Justiz und Politik aufrecht.

Wir lassen uns nicht von ihren Lügen hinters Licht führen! Unsere Fakten und Beweise widerlegen ihre faulen Hypothesen! Die Wahrheit ist keine Deutungshoheit der Täter*innen und Gerechtigkeit ist mehr als ein bloßer Anspruch der Hinterbliebenen! Beides müssen wir gemeinsam als solidarische Menschen gegen die notorischen Institutionen eines verantwortungslosen Rechtsstaates erkämpfen! Das sind wir den Opfern schuldig!

Oury Jalloh – Das war Mord!